Teil vier der Beitragsreihe von Andreas Neumann
„Das ist Musik in meinen Ohren“, sagt man im Deutschen als sprichwörtliche Redensart gerne dem Überbringer einer guten Nachricht. Und im deutschen Nachbarrecht ist das Sprichwort „Kinderlärm ist Zukunftsmusik“ gängig. Ob es sich dabei um ein Sprichwort – russisch пословица – oder eine sprichwörtliche Redensart – поговорка – handelt, kann unter Umständen eine schwierige Abgrenzungsfrage sein.
Die Faustregel lautet: Sprichwörter haben ein Motto und stehen für sich, während Redensarten einen sinngebenden Zusatz benötigen. Die Beschäftigung mit solchen Sprichwörtern, Aphorismen, Zitaten und sprichwörtlichen Redensarten ist eine gute Methode, über die Sprachen nachzudenken. Wie Sprichwörter und Redensarten zu übersetzen sind, hängt immer vom Kontext ab, es verbietet sich eine allzu wörtliche Übersetzung, wenn es passende Entsprechungen gibt.
Einige Beispiele an dieser Stelle mögen genügen. Ob die Formulierungen gängig sind oder nicht, muss man im Einzelfall einfach ausprobieren. Oft enthalten Sammlungen von Sprichwörtern und Redensarten wie etwa die im Reclam-Verlag erschienene zweisprachige Sammlung neben gängigen Sprüchen auch viele für Muttersprachler unverständliche und allenfalls lokal gebräuchliche oder sogar gänzlich obsolete Sinnsprüche lediglich von historischer oder literaturwissenschaftlicher, philologischer Relevanz.
Ein klassisches Sprichwort: Тон делает музыку
Тон делает музыку – der Ton macht die Musik – ist ein klassisches Sprichwort und beinhaltet im Russischen wie im Deutschen die Aufforderung, in zivilisierter Form selbst dann zu diskutieren, wenn die Gegenseite ignorant ist und beleidigt. Ähnlich auch Какова песня, таковы и слова (so wie das Lied, so auch die Worte), entsprechend vielleicht dem Deutschen „wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus“.
Без музыки мир бы был ошибкой
Без музыки мир бы был ошибкой – Ohne Musik wäre die Welt ein Irrtum. Tatsächlich ist dieser Spruch ein Aphorismus von Friedrich Nietzsche in seiner Götzendämmerung von 1888 (Leipzig 1889), Nr. 33. Er wird im Russischen auch in abgewandelter Form benutzt, etwa Мир без музыки, что птица без крыльев (eine Welt ohne Musik ist wie ein Vogel ohne Flügel).
Песню играть
Песню играть – не поле пахать (ein Lied zu spielen bedeutete nicht, ein Feld zu pflügen) sagt man, wenn den Worten keine Taten folgen, also als Kritik an jemandem, der lediglich leere Versprechungen abgibt.
Петь вместе, а говорить порознь
Петь вместе, а говорить порознь (singt zusammen aber redet nacheinander) benutzt man, wenn es in Diskussionen chaotisch hergeht, der eine den anderen nicht ausreden lässt. Während man harmonisch zueinander passend gleichzeitig singen kann, versteht man bei gleichzeitigem Gerede mehrere Menschen eben kein Wort mehr.
По пляске ‒ погудка, по песне ‒ припев
По пляске ‒ погудка, по песне ‒ припев (dem Tanz gemäß ein Summen, dem Lied gemäß ein Refrain) oder auch Соловей с вороной по разному живут, да по разному песни поют (Nachtigall und Krähe leben unterschiedlich und singen unterschiedliche Lieder) benutzt man zum Ausdruck chacun à son goût, „jedem nach seinem Geschmack“.
Не всяк весел, кто поет
Не всяк весел, кто поет – „nicht jeder, der singt, ist glücklich“ versteht sich von selbst, ähnlich auch Какая жизнь, такие и песни – „wie das Leben so die Lieder“ und Какие думы, такие и песни – „wie die Gedanken so die Lieder“. Passend dazu auch Натощак и песня не поется – „mit leerem Magen kann das Lied nicht gesungen werden“, vergleichbar (unter umgekehrten Vorzeichen) dem Deutschen „voller Bauch studiert nicht gerne“.
Не бойся того, кто песни поет, а бойся того, кто дремлет
Не бойся того, кто песни поет, а бойся того, кто дремлет – „fürchte dich nicht vor den Liedersängern, sondern vor dem der schläft“ – ist eine russische Antwort auf das deutsche Sprichwort „Wo man singt, da lass dich ruhig nieder“, aus Johann Gottfried Seumes (1763-1810) Ballade „Die Gesänge“: „Wo man singet, laß dich ruhig nieder, / Ohne Furcht, was man im Lande glaubt; / Wo man singet, wird kein Mensch beraubt; / Bösewichter haben keine Lieder.“
Немой глухому псалмы поет
Немой глухому псалмы поет – „der Stumme singt den Tauben Psalmen“ ist offenbar eine Verballhornung zu Markus 7,37 „selbst Taube können wieder hören und Stumme sprechen“ und wird benutzt, um eine fruchtlose Diskussion zu charakterisieren, bei der alle aneinander vorbeireden. Ähnlich aus dem orthodoxen christlichen Kontext bzw. dem Neuen Testament stammt Старая песня на новый лад – ein altes Lied auf neue Art bzw. „alter Wein in neuen Schläuchen“ nach Markus 2,22.
Last not least:
У всякой песни свой конец – alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei.
Andreas Neumann
neumann@immoanwalt.nrw
https://immoanwalt.nrw/
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