eine Serie von Andreas Neumann aus Münster
Erhabenheit und Niedergeschlagenheit bei Modest Petrowitsch Mussorgski (1839-1881)
Zu den Musikstücken, die mich seit meiner Kindheit am meisten faszinieren, gehören die an Klangfarben und Kontrasten reichen „Bilder einer Ausstellung“ von Mussorgski. Für Pianisten ist es ein dankbares Werk, weil jedes einzelne der Stücke die klanglichen Möglichkeiten des Pianos extrem ausschöpft. So bereitet es unbeschreibliche Freude, einerseits die vollen Akkorde zu greifen, andererseits aber auch die leisen, harmonisch und melodisch raffinierten, zum Teil mit Tremoli untermalten Stellen tiefster Kontemplation.
Mussorgski, der dem immer mehr verarmenden Landadel entstammte, komponierte diese geniale Suite in St. Petersburg in Erinnerung an seinen verstorbenen Freund Viktor Hartmann, für den vom Widmungsträger Stassow eine Ausstellung einige seiner Bilder bzw. Projekte durchgeführt worden ist. Sie ist wie sein gesamtes musikalisches Schaffen gekennzeichnet durch Unmittelbarkeit und Echtheit ohne jegliche musiktheoretische Glasperlenspiele. Man findet darin musikalische Anklänge an seine einige Jahre vorher vollendete Oper „Boris Godunow“ auf der Grundlage der gleichnamigen Tragödie Pushkins.
Die „Bilder“ beginnen mit der Promenade, dem frohen Eingang in die Ausstellung der insgesamt zehn vertonten Bilder. Die Promenade kommt zwischen den Bildern in jeweils klanglich wie harmonisch stark abgewandelter Form weitere fünf Mal vor, zuletzt unter der Überschrift „Mit den Toten in einer toten Sprache (sprechen)“.
Die Promenade ist musikalisch aus der Umkehrung des großen Finales der Suite entwickelt, betitelt „Das Bogaty-Tor in der alten Hauptstadt Kiew“. In diesem Finale singt ein Männerchor einen russisch-orthodoxen Choral, erst leise und dann laut, aber stoisch „ohne Ausdruck“, woraufhin dann nach und nach sämtliche Glocken der Sophienkathedrale und der Alexanderkirche zu hören sind.
Die weiteren Stücke der Suite behandeln etwa ein „altes Schloss“, den Streit von Kindern, einen schweren Ochsenkarren mit großer Last und die Aufregung über eine hereinbrechende Nachricht auf einem Marktplatz.
Der von mir in meinem vorangegangenen Beitrag dieser Reihe besprochene Prokofjew – siehe https://www.lyapin.de/blog/lautmaler-russischer-volksseele-im-maschinen-zeitalter – nimmt im dritten Satz „Andante“ seiner zweiten Klaviersonate auf Mussorgski Bezug, ohne aber ihn einfach nur zu kopieren. Man erkennt in diesem Satz trotz Prokofjews eigenständiger Handschrift etwa das „alte Schloss“ und den „Ochsenkarren“ wieder. Vergleichbar ist auch die jeweilige Verwendung von Tritoni, urtümlicher Modi, typisch russischer Harmonik sowie auch der Chromatik.
Die Bilder einer Ausstellung machen Lust, sich mit Mussorgskis Autobiographie von 1880 und seinen weiteren Werken näher zu befassen.
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