Literaturunterricht in russischen Schulen. Oder warum alle Russen die Klassiker so gut kennen, Gedichte stundenlang rezitieren können und gerne lesen.
Als meine Tochter anfing in die Schule zu gehen, habe ich mich immer gewundert.
Deutsch – ja
Mathe – ja
HSU – ja
Wo ist die Literatur??!
In der ersten Klasse dachte ich, na ja, OK, Kinder sind noch zu klein, da müssen sich die Eltern um lesen kümmern. In der zweiten Klasse, als es immer noch keine Literatur in der Schule gab, schlich sich bei mir ein Verdacht ein. Aber das konnte doch nicht wahr sein, oder? In der dritten Klasse startete ich eine Umfrage und zu meiner Verblüffung stellte ich fest, es wird kein Fach Literatur geben. Überhaupt nicht.
Deutsch – ja
Mathe – ja
HSU – ja
Religion und Beten, Basteln, Malen, Musizieren, alle Arten von Ballspielen, ein paar Fremdsprachen, viel später ein bisschen Chemie und Physik, sodass man eine oder andere schnell abwählen könnte. Aber keine Literatur!
Mir wurde erklärt, dass Kinder im Fach Deutsch Bücher lesen. Aber wie ich erst später herausfand, es sind nur zwei dünne Büchlein pro Jahr. Meine Tochter hatte immer das Problem, dass sie es zweimal lesen müsste: Sie las das Buch in zwei Stunden, als es mit der Post nach Hause kam, und dann nach ein paar Wochen vor dem Test über dieses Buch, da sie zwischendurch und wegen vielen anderen Büchern die Einzelheiten total vergessen hat.
Und bis jetzt ist es für mich ein Rätsel. Ist die literarische Ausbildung die Aufgabe der Eltern oder geht man davon aus, dass alle Kinder gleich nach der ersten Klasse selbst jeden Tag in die Bibliothek marschieren werden? Oder ist das Lesen überbewertet und man braucht es überhaupt nicht? Oder verursachen die Bücher zu viele Gedanken?…
Von anderer Seite höre ich ständig von vielen Mamas und Lehrer/innen, dass die Kinder nicht lesen. Na mal ehrlich, wenn es in der Schule kein Matheunterricht gäbe, nur ganz simple Sachen, die im HSU zweimal pro Jahr gerechnet werden, wie viele Schüler könnten da gut rechen? Physiker werden? Programmieren? Gott sei Dank, ist es Literatur und nicht Mathe.
Literaturunterricht: Wie viel lesen russische Kinder
Wovon kommt meine ganze Empörung? Wo ist der Unterschied zwischen dem deutschen und russischen Schulprogramm?
Ganz simpel. In allen (glaube ich zumindest) postsowjetischen Ländern gibt es Russisch (so wie Deutsch in Deutschland) und noch dazu das Fach Literatur bzw. „“Das literarische Lesen“. Wie funktioniert das?
Wenn die Kinder mit sechs Jahren in die Schule gehen, können sie meistens dank dem Vorschulprogramm schon lesen. In der ersten Klasse fangen sie schon an, kurze Märchen und Kindergeschichten unter anderem von L. Tolstoi zu lesen. Der Stoff ist zwar leicht, aber nicht Baby-leicht, schwierige und veraltete Wörter werden nicht weggeputzt, sondern erklärt und gelernt, eins nach dem anderen.
Insgesamt sind für das Fach „Literarisches Lesen“ in der Grundschule 506 Stunden vorgesehen. fünfhundertsech Stunden!!! Nur in der Grundschule. Und das ist nur im Unterricht, aber es gibt ja noch Hausaufgaben, die man erledigen muss. Man muss Gedichte auswendig lernen, längere Werke zu Hause lesen, um in der Schule über sie zu diskutieren und darüber Aufsätze zu schreiben. Ah ja, zum Hauptschulprogramm gibt es immer noch eine sehr lange Liste der empfohlenen Literatur für die Sommerferien …
Und das ist nur über die Grundschule die Rede.
5. – 11. Klasse
Nach der Grundschule werden die Kinder nicht wie in Deutschland nach der Begabung diskrimini… sortiert. Alle Kinder bleiben zusammen bis zur 9. Klasse. Und lesen auch alle zusammen. Egal welche Noten du hast, Tolstoi, Dostojewski oder Bulgakov musst du lesen 😅
Nach Angaben des Bildungsministeriums umfasst der obligatorische Literaturunterricht von der fünften bis zur elften Klasse 646 Stunden. Also, nochmal – sechhundertsechsundvierzig: drei Stunden pro Woche in den Klassen 5-6 und 9-11 und zwei Stunden pro Woche in den Klassen 7-8. In dieser Zeit müssen die Schülerinnen und Schüler 667 Werke!!!!! (Deutsche Kinder im Gymnasium: 2 mal 8 Jahre – 16 insgesamt???) lesen: 340 in Versen, 317 in Prosa, und 10 weitere zur Auswahl.
In sieben Jahren lernen die Schülerinnen und Schüler die Werke von 202 Autoren kennen. Davon sind 145 einheimische und 57 ausländische Autoren. Von den einheimischen Autoren werden 88 als Prosaschriftsteller, 63 als Dichter vorgestellt, und sechs kombinieren diese Kategorien: Alexander Puschkin, Michail Lermontow, Iwan Bunin, Alexej Tolstoi, Vladimir Nabokov und Nadeschda Teffi.
Ist Lesen wichtig?
Und man muss auch verstehen, dass es nicht nur um das pure Lesen geht. Das literarische Lesen von der 1. bis zur 11. Klasse hat viele Aufgaben. Und das sind nur weniger von denen:
1. Beherrschung der allgemeinen kulturellen Fähigkeiten zum Lesen und Verstehen des Textes.
2. Förderung des Interesses am Lesen und an Büchern selbst.
3. Beherrschung der Sprach-, Schreib- und Kommunikationskultur.
4. Entwicklung der Fähigkeit, ein belletristisches Werk vollständig zu verstehen, sich in die Figuren einzufühlen und emotional auf das Gelesene zu reagieren.
5. Erweiterung des Wortschatzes der Schüler.
6. Erziehung zu einer ästhetischen Einstellung zur Realität, die sich in der Fiktion widerspiegelt.
7. Die Entwicklung des poetischen Gehörs der Kinder.
8. Bereicherung der sinnlichen Erfahrung des Kindes, seiner realen Vorstellungen von der umgebenden Welt und der Natur.
9. Beherrschung der grundlegenden moralischen und ästhetischen Werte der Interaktion mit der umgebenden Welt, Erwerb der Fähigkeit, positive und negative Handlungen von Personen und Ereignissen zu analysieren.
10. Das Verständnis der Bedeutung der emotionalen Färbung aller Handlungsstränge des Werks trägt zur Ausbildung eines angemessenen emotionalen Zustands als Voraussetzung für das eigene Verhalten im Leben bei.
11. Lesen ist für die geistige Entwicklung eines Menschen einfach unverzichtbar.
Außerdem ist es ein faszinierender Prozess, der die Vorstellungskraft fördert und es ermöglicht, etwas über die Welt zu lernen.
Habt ihr nicht das Gefühlt, dass den deutschen Kindern eine ganze Welt gestohlen wurde? Oder sogar viele Welten? Ich leider schon.
Und was sagt ihr dazu?
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Das Lesen kommt in deutschen Schulen leider viel zu kurz. Zuhause kommt es auch so gut wie nicht mehr vor, selbst wenn die Eltern selbst Akademiker sind. Traurige Entwicklung.
Die beschriebene Riesenmenge an Büchern, die Kinder in Russland anscheinend lesen müssen, empfinde ich als kontraproduktiv bis schädlich. Solch extremer Erfolgsdruck über so viele Jahre führt zur totalen Überforderung und kann krankmachen. Nicht mal in den Sommerferien dürfen sich die dauergestressten Kinder mal ausruhen, geistig abschalten und das bisher Gelernte verarbeiten oder gfs. nicht verstandenes nochmal in Ruhe wiederholen. Sogar dann müssen sie weiter Neues lernen und Bücher lesen etc.
Ich bin jedenfalls froh, daß ich in der Schule kein Fach Literatur hatte, weil mich Phantasiegeschichten Null interessieren und mir im späteren Leben auch nie gefehlt haben. Dafür habe ich von anderen Themen Ahnung, über die andere Leute nichts wissen. Habe immer sinnvolle Sachbücher bevorzugt. Anstatt pauschal mit Zwang auf die Kinder einzuwirken, sollte man lieber auf die individuelle Persönlichkeit und unterschiedlichen Begabungen, Stärken und Schwächen eingehen mit entsprechenden Lern- und Arbeitsgruppen – wie es auch später im Studium/Berufsleben praktiziert wird. Was die Aufteilung der Schüler in D nach der Grundschule in verschiedene Leistungsstufen mit Diskriminierung zu tun haben soll, finde ich absurd und realitätsfremd. Wie sollen zB. zwei sehr schwache Schüler inmitten von deutlich stärkeren und intelligenteren Schülern denselben Stoff lernen und geistig mithalten?! Wenn man solchen leistungsschwachen Schülern denselben Unterrichtsstoff im selben Lerntempo aufzwingt und abverlangt, nenne ich das Misshandlung! Außerdem ließe sich das für Lehrer sowieso nicht ohne Probleme umsetzen, schwache und starke Schüler gleichzeitig zu unterrichten, ohne das jemand darunter leidet. Entweder fühlen sich die Schwachen Schüler ständig bloßgestellt und entwickeln zunehmend Minderwertigkeitsgefühle oder die starken Schüler wären genervt, weil sie ständig Rücksicht auf die Nachzügler nehmen müssen.
Zwang, Druck und Angst ist grundsätzlich die schlechteste Basis zum Lernen (Lernpsychologie!). Lernen sollte zumindest überwiegend Freude machen und den individuellen Fähigkeiten des Menschen entsprechen, egal ob Kind oder Erwachsene. Wer das nicht versteht, ist ein schlechter, empathieloser Pädagoge.
Wenn ich in Russland ein KInd hätte, würde ich es nach ausgiebiger Prüfung der Schulen in eine geeignete Privatschule geben, wo man seine Persönlichkeit respektiert und entsprechend seiner Anlagen/Fähigkeiten fordert und fördert. Menschen sind nun mal nicht gleich.